Nils Petter Molvaer Stitches
Nils Petter Molvaer Stitches
Nils Petter Molvær (tp), Johan Lindstrøm (g), Erland Dahlen (dr), Jo Berger Myhre (b), Release 27.08.2021
Kommen wir von den Anfängen zurück auf die, die schon immer dagewesen zu sein scheinen, seit den Neunzigern einmal mehr Nils Petter Molvaer, diesmal mit etwas ruhigeren Stitches, mit hin und wieder ausbrechendem Orkan – wie man es von ihm kennt.
Dies ist sozusagen Fahrstuhl rückwärts fahren, mit Avantgarde im Koffer oder im Kopf, und doch ist es eine relativ gemächliche Fahrt, ohne dass Zusteigende bemerkt würden oder etwa Panik ausbricht oder Platzangst entsteht … schreibe ich so daher …
Tatsächlich verbinden mich mit Molvaer Stimmungslagen – Afterworkpassagen, Nachtelegien, Romantisches wie Bestürzendes – als ich Khmer entdeckte, war die Aufnahme schon drei Monate alt, heute höre ich sie und stelle fest: sie trägt noch immer – zumal der Sound sich unverwechselbar anhört. Obwohl oder gerade weil Erik Truffaz und Jon Hassell auf den gleichen Tonarten unterwegs zu sein schienen.
Bin emotional befangen – selbst Trompete gespielt und Posaune – pur sozusagen, ohne Effekte – die bei Molvaer schon immer reichlich mit an Bord waren.
Zur Aufnahme
Stitches reiht sich ein in die Werke Khmer, Switch, Buoyancy, was Melodieführung, Phrasierung und Drumsets angeht – was auch die Linienführungen betrifft, die von jener nordischen Lichtspielsphäre beeinflusst scheinen, wenn am Himmel Nordpol und letztes Sonnenflimmern einander grüßen – trotzdem scheue ich mich, von einem „nachdenklichen Molvaer“ zu sprechen – da mir das Melancholische nie als Denkschule begegnete, dagegen mehr Nabelschau und Selbstreflexion nach sich zog.
Nun konnte ich woanders lesen, dass dies ein Postpandemie Album sei, da Molvaer selbst schwer an COVID erkrankte – wüsste ich das nicht, es würde mich trotzdem nicht der Pandemie wegen abholen, es scheint mir das subjektive Moment bei Molvaer schon lange tragendes Bild, das er wiederholt versteht, facettenreich zu vermitteln.
Nils Petter Molvaer Stitches Drum & Bass, Effektenwirbel und Soundcollage, zum nun schon sechszehnten Mal (),
wenn ich richtig gezählt habe – was ihm nicht mehr rausrutschen will: eine Melodie, wie zu Khmer- (mit einem seinerzeit unübertroffenen Soundtüftler Eivind Aarset an der Gitarre) oder wie zu Solid Ether Zeiten – vielleicht ist das wenig entscheidend.
Noch immer bläst es aus seiner Trompete ziemlich kühl und auch, was das Melancholische betrifft, passioniert präzise und klar – wären da nicht all die grandios treibenden und fetzigen Stücke, von denen es auf dieser Aufnahme drei zu geben scheint: a das Intro Median feierlich eröffnet, b im Framework 1 und c in Angels Ahead () – die Gewichtung scheint ohnehin mehr auf Introspektion und Stille aus zu sein. Nicht mehr Volumen durch Maschine, sondern Ertasten oder Abklopfen, ob die Maschine noch da ist. (Könnte man sich endlich auf sie verlassen und wäre nicht ständig von ihr verlassen. Einmal warteten wir über eine Stunde, bis das Equipment endlich startklar war, da war es schon 24:oo Uhr)
Eine reife Leistung. Als Aufnahme. Wie das live funktionieren soll, wirst du sehen, wenn das Publikum seine Unruhe mit aufs Konzert bringt und Molvaer es zum Innekehren zwingt – wo jetzt schon so viele wieder ausbrechen wollen.
Man könnte genauso gut sagen, das sei alles so aus der Zeit gefallen, die Zeit wird an sich selbst gemessen. Musik wird immer dann interessant, wenn sie ihre eigene Ebene verlässt und sich in dir ausbreitet. Oder: einer, der die immer gleichen Töne bläst und doch jedes Mal, wenn du zuhörst, etwas anderes in dir auslöst.
Und wenn all das nichts mehr bei dir auslöst: gleich noch einmal reingehört in Tlon von Khmer – die Hymne der Neunziger mit Herzschlag. Als ich sie das erste Mal hörte, war sie sofort meins – und genau das macht befangen. So komme ich nicht darum herum, auch diese Aufnahme ohne Abstriche zu empfehlen, für Freunde Molvaers gibt es wohl kein daran Vorbei.
Trumpet NIls Petter Molvaer : Drums: Erland Dahlen, Bass: Jo Berger Myhre, Guitar: Johan Lindstrøm
Literaturempfehlungen, ebenfalls Norwegen: Tomas Espedal : Gehen | Jon Fosse – Melancholie
Referenzen:
Nils Petter Molvaer Wiki Nils Petter Molvaer Stitches
Molvaer hat Schwergewichtsstatus erreicht im kultur-port.de
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