Die Anderswelt des Joe Hertenstein
Die Anderswelt des Joe Hertenstein
Live @ Moers
Eliad Wagner – modular synthesizers
Kellen Mills – bass
Dafna Naphtali – voice, max msp
Daisy Payero – improvised theatrics
Joe Hertenstein – drums, concept
Valentin Brux – lighting design
„Joe Hertensteins Schlagzeug scheint die Musik von Grund auf zu formen“… allaboutjazz 2005
die Objekte
Ein Hertenstein-Feature – meine Güte – wo anfangen, wo aufhören? Es beginnt mit biografischen Daten: Als Sohn eines Schwarzwälder Holzfällers und Wildschweinjägers schnitzte er Trommelstöcke aus Hölzern und Hörnern und baute sein erstes eigenes Schlagzeug aus Töpfen, Pfannen und Wildschweinschädeln auf der Ladefläche eines ausrangierten Lastwagens. Wenn das kein Anfang zu einem Roman ist, sind auch Romane weder aus Holz, noch aus Worten, Sätzen oder Absätzen zusammengestellt, sondern aus krachenden, berstenden oder splitternden Versen. Joe Hertenstein, längst bekannt über unzählige Engagements in den Bereichen internationaler Jazz- und freien Improvisationsszenen beiderseits des Atlantik, oder als Entertainer in Sachen englisch- wie deutschsprachiger Liedermacherei, aber auch durch die Vermittlung von Gegenstandsanalysen wie sein “Soundcheck am Tisch” – gefunden habe ich ein 9:58 Minuten Tape bei Youtube – quasi als Vorwort. In meiner Vorstellung von einem Drummer war noch nie etwas sicher davor, beklopft, betippelt oder zerrieben zu werden – hier Joe Hertenstein, bei dem alles klingelt, knirscht, sich bewegt und lebendig wird, ob Styropor, Luftballon oder Luftpolsterverpackung. Er nennt es #stonetablepercussion bzw. #stonetablepercussionkithybrid.
Alles was unter der Erde ist, kann über der Erde sein, und alles, was über der Erde ist, unter der Erde, in der Erde, aus der Erde oder neben der ausgehobenen Erde – Beiss mir ins Herz, kein Scherz. Zwischen Liedermacherei, Geräuschkulissen und dem Gelangweiltsein beim Anstarren der Pauken in Beethovens Sinfonien wird der 19 jährige Hertenstein von einer Bootleg-Aufnahme Charlie Parkers so aus der Bahn geworfen, dass er beschließt, alles stehen und liegen zu lassen, um sich nur noch der Freiheit und ultimativen Kreativität in der Musik zu widmen. Auf dieser neuen Umlaufbahn bewegt er sich nun schon mehr als zwanzig Jahre und konnte zuletzt dabei erwischt werden, wie er beim Moers Festival alles aus den Angeln hob und nebst einer sich scheinbar miträkelnden Schattenbox unter das Dach der Festspielhalle trieb – ein schier überwältigender Moment medialer wie kreativer wie musikalischer Aufarbeitung oder besser Umgestaltung von Welt – zu einer Anderswelt – diese Anderswelt ist eine eigene Welt. Hin und wieder ruft er dem, der glaubt, er sei von dieser Welt, über den Tisch hinweg zu: Jazz ist Underground! Er kommt aus dem Underground und ist kein Jazz, wenn nicht durch die Freiheit zu bespielen, was Objekte, Dinge, Gegenstände, Klangflächen, Kanten und Ritzen alles hergeben. [Und was über sie gedacht und gesagt wurde] Auf seiner Reise getrieben vom Lauf der Dinge, vom Anlauf zu den Dingen, zum Durch- und Ablauf der Dinge – alles ist da, um angefasst und ausprobiert zu werden, um verwandelt zu werden in die eigene Welt, seine Welt, die Anderswelt von Joe Hertenstein.
Wenn du staunen willst, bitte:
die Reise
Die Frage stand im Raum, mit welcher Aufnahme lässt sich derzeit am meisten liebäugeln, welche ist die heißeste Scheibe, welche die neueste, welche die, die mehr ist als der Versuch, etwas zusammenzubringen oder zusammenzuspielen, zusammen- wie auseinanderzuschneiden. Denn es gibt keine Priorität, sie gelten alle, weil echt und wahrhaftig. Hertensteins Drumset ist immer auch eine eigene Tonspur, die ohne Anfang und Ende zu brillieren weiß und Muster liefert als Grundlage für alle weiteren Aussagen der Musizierenden – und, das kann man nicht hoch genug einschätzen, Timing entscheidet nicht grundsätzlich, da es auch gegengelesen oder kontrastiert werden kann, hilft aber enorm, wenn die eigenen Phantasieregister klemmen oder stocken – die Beispiele sind bekannt: Der Maler vor der weißen Leinwand, der Autor vor dem ersten Satz, die Melodie im ersten Takt oder das erste Zuspiel im Sport, die erste Begrüßung in der Teamsitzung, die Zurufe aus dem Off, wer das Timing nicht hat, braucht länger um zu folgen; wer auf Hertenstein trifft, kann sein Sorgenregister an der Garderobe abgeben und sich ohne Angst ins Spiel werfen: Hertenstein an den Drums weiß alles zu halten, zu stabilisieren und voranzutreiben. Kompositionen sind Bestandteile, Improvisation ist Konzept. Perkussion als sich ausbreitende Fläche, in der sich jeder jederzeit mitäußern kann.
Joe Hertenstein engagiert sich immer wieder als Brückenbauer der Berliner und New Yorker Szenen und konnte schon beachtliche Kollaborationen in beiden Städten anzetteln.
Dokumentiert sind Joe Hertensteins Arbeiten als Leader auf bislang sechs Alben und unzähligen Veröffentlichungen als Sideman bei so unterschiedlichen Labels wie Cleanfeed bis MoersMusic oder Jazzwerkstatt Berlin, nachlesbar in unzähligen Artikeln zu diesen Aufnahmen, Tape für Tape auf Youtube nacherlebbar. Und wenn man danach noch immer glaubt, man hat schon alles gehört und gesehen, kann man sich gleich auf das nächste Konzert oder die nächste Veröffentlichung freuen: Im Oktober 2024 findet eine zweiwöchige Europatournee seines neuen Quartetts mit Ray Anderson, Michael Moore und Michael Formanek statt, für Anfang 2025 ist die Veröffentlichung seines Hammond-Orgeltrios mit Anthony Coleman und Jon Irabagon geplant. Er ist ständig auf der lokalen Berliner Szene zu hören und verbringt immer wieder lange Aufenthalte in New York City. Welch stabilisierende Wirkung sein Schlagzeugspiel hat für die, die gern Vielsagendes und Freidenkendes austauschen! Auch nicht zu unterschätzen, wie höchst kommunikativ er agiert als wäre es das Selbstverständlichste, sich alles, aber auch alles um die Ohren fliegen zu lassen.
die Formationen
das Unzeit Quartett –
Die aktuellste Veröffentlichung
most current release
Die vier Musiker*innen trafen sich erstmals im Dezember 2021 auf Initiative von Céline Voccia zu einer informellen Session in einem Berliner Probeatelier. Schon bei diesem ersten Zusammentreffen sprang der Funke über und die Instrumente verschmolzen zu einem pulsierenden Bandsound …. bandcamp
The Leader
HNH
Die sieben Stücke fließen mit kaum Pausen und wechseln zwischen den Komponisten, wobei die vermutete Absicht des Albums beibehalten wird: wie eine lange freie Improvisation zu klingen, ohne tatsächlich eine zu sein. Heberer hält seine Viertelton-Trompetentechnik im Allgemeinen rein, ohne das gelegentliche Schnurren oder Rauschen, das für Schwung sorgt. Hertenstein praktiziert die in Europa so weit verbreitete lockere Takthaltung, von der Unwissende behaupten, dass ein ganzer Kontinent nicht swingen kann. Und Niggenkemper, der sowohl französische als auch deutsche Wurzeln hat, sickert zwischen die Ritzen, die seine Trio-Kollegen bieten.‘ Andrey Henkin, 1/2011 ALLABOUTJAZZ-NEW YORK
Polylemma
Zu den Höhepunkten der CD Polylemma gehören Heberers Garden, ein extrem ruhiges Stück, das sich durch kontinuierliche Bewegung auszeichnet, und Hertensteins Crespect, in dem Improvisation und Komposition ständig ineinandergreifen. Stuart Broomer in musicworks
TØRN – Future Drone – Live During Lockdown
Live During Lockdown
The Sideman
Die Anderswelt des Joe Hertenstein – english version
In 2005 „All About Jazz NY“ magazine praised his performance observing that „Joe Hertenstein’s drums seem to be shaping the music from the bottom up„, and in 2011 „Hertenstein practices that loose time-keeping so prevalent in Europe that the ignorant use to claim that an entire continent can’t swing.“
the objects
A Hertenstein feature – my goodness – where to begin, where to end? It begins with biographical data: As the son of a Black Forest lumberjack and wild boar hunter, he carved drumsticks from wood and horns and built his first own drum kit from pots, pans and wild boar skulls on the back of a discarded pick-up truck. If that’s not the beginning of a novel, then novels are not made of wood, nor of words, sentences or paragraphs, but of crashing, bursting or splintering verses. Joe Hertenstein, long known through countless engagements in international jazz and free improvisation scenes on both sides of the Atlantic, or as an entertainer in English and German language songwriting, but also through the mediation of object analyses such as his „Soundcheck at Table“ – I found a 9:58 minute tape on YouTube – as a kind of preface. In my idea of a drummer, nothing has ever been safe from being knocked, tapped or crushed – in this case it’s Joe Hertenstein, where everything rings, crunches, moves and comes to life, whether it’s polystyrene, a balloon or bubble wrap. He calls it #stonetablepercussion or #stonetablepercussionkithybrid.
Everything that is under the earth can be above the earth, and everything that is above the earth, under the earth, in the earth, out of the earth or next to the excavated earth – Beiss mir ins Herz, no kidding. Between songwriting, soundscapes and being bored staring at his timpani during the long tacets of Beethoven’s symphonies, the 19-year-old Hertenstein is so thrown off course by a bootleg recording of Charlie Parker that he decides to drop everything and devote himself completely to freedom and ultimate creativity in music. He has been moving in this new orbit for more than twenty years now and was recently caught unhinging everything at the Moers Festival and driving it through the roof of the Festspielhalle together with a shadow box that seemed to be lolling along – an almost overwhelming moment of medial, creative and musical reappraisal or rather transformation of the world – into a different world – this different world is a world of its own. Every now and then he calls across the table to those who believe he is from this world: Jazz is underground! It comes from the underground and is not jazz if not for the freedom to play with what objects, things, items, sound surfaces, edges and crevices have to offer. [And what was thought and said about them] On his journey, driven by the course of things, by the approach to things, to the flow and course of things – everything is there to be touched and tried out, to be transformed into his own world, his world, Joe Hertensteins Otherworld.
If you want to be amazed, please
the journey
The question was which recording is currently the most popular, which is the hottest record, which is the newest, which is the one that is more than just an attempt to bring something together or play it together, to cut it together or cut it apart. But there is no priority, they all apply because they are real and true. Hertenstein’s drumset is always a soundtrack of its own, which knows how to shine without beginning or end and provides patterns as a basis for all further statements by the musicians – and, this cannot be overestimated, timing is not fundamentally decisive, as it can also be counter-read or contrasted, but helps enormously when one’s own imaginative registers jam or falter – the examples are well-known: The painter in front of the white canvas, the author before the first sentence, the melody in the first bar or the first pass in sport, the first greeting in the team meeting, the shouts from the off, those who don’t have the timing take longer to follow; those who meet Hertenstein can drop their worries at the coat check and throw themselves into the game without fear: Hertenstein on the drums knows how to hold everything in place, stabilize it and drive it forward. Compositions are components, improvisation is the concept. Percussion as an expanding dimension in which everyone else can express themselves at any time.
Joe Hertenstein has repeatedly acted as a bridge builder between the Berlin and New York scenes and has initiated notable collaborations in both cities.
Joe Hertenstein’s work as a leader has been documented on six albums and countless releases as a sideman on labels as diverse as Cleanfeed, MoersMusic and Jazzwerkstatt Berlin, and can be read in countless articles on these uncountable recordings, tape by tape on YouTube. And if you still think you’ve heard and seen everything afterwards, you can look forward to the next concert or the next release: A two-week European tour of his new quartet with Ray Anderson, Michael Moore and Michael Formanek will take place in October 2024, and the release of his Hammond organ trio with Anthony Coleman and Jon Irabagon is planned for early 2025. He can constantly be heard on the local Berlin scene and spends long periods of time in New York City. What a stabilizing effect his drumming has for those who like to exchange meaningful and free-thinking ideas! Also not to be underestimated is how highly communicative he is, as if it were the most natural thing in the world to let everything, really everything, fly around his ears.
the Interplay