Nicola Miller – Living Things
Nicola Miller – Living Things
release 13.12.2024
Nicola Miller – Alto Saxophone,
Frank Gratkowski – Bass Clarinet / Alto Saxophone (on „Buffeheads“),
Doug Tielli – Trombone / Saw (on „Seagulls“) / Voice through tube (on „Flies“),
Nicholas D’Amato – Upright Bass,
Nick Fraser – Drums.
All Compositions by Nicola Miller
Mixed and Mastered by Sandro Perri.Recorded at Stonehouse Sound by John D.S. Adams. Graphic design and artwork Carola Nebbia
nicolamillersaxplayer.com
cacophonous revival recordings
Nicola Miller – Living Things
Ihr seltsam zartes Spiel streckt sich in Richtung Avantgarde und bleibt gleichzeitig lyrisch und geheimnisvoll.
Anhaltspunkte finden wir in den Liner Notes: „der Titel Living Things meint die biologische Bedeutung der Zelle als grundlegende Einheit des Lebens, genauso ihre Rolle als kleinste strukturelle Komponente in jeder Komposition“. Der Titel „Barge“ verwendet eine Feldaufnahme eines an einem Dock festgemachten Lastkahns als Partitur. Der Titel „Seagulls“ basiert auf einer Transkription verlangsamter Möwenschreie, während die videografische Partitur von ‚Seaweed‘ die Wirkung von bewegtem Wasser auf verwurzeltes Seegras einfängt.
Nicola Miller lebt unweit des Meeres in der Provinz Nova Scotia, für die auch die
deutsche Bezeichnung Neuschottland geläufig ist, die Provinz besteht im Wesentlichen aus der Nova-Scotia-Halbinsel am Atlantischen Ozean und der nordöstlich vorgelagerten Kap-Breton-Insel. Zahlreiche Buchten und Fischerorte säumen die Küste.
Daher die Seagulls, die Möwenschreie, daher der an einem Dock festgemachte Lastkahn.
Da hinein weht der Wind, du hörst das Knarren der Motoren, das könnte am Anfang des Bildes stehen, da die Bassklarinette von Frank Gratkowski ertönt, über die das Alt Saxophon sich einspielt. Klappert das Metall an die Tonne, metaphorisch: ein Hafenbild vom Rütteln der Ankerseile im Wind.
(Barge heißt übersetzt: der Lastkahn)
Es folgen die Night Crawlers – die Nachtschwärmer – sie haben viel vor, sprechen wild, können sich nicht einigen, das Alt Saxophon schließlich erzählt ihnen, warum sie ihrer Geschichte mehr trauen sollten als die der Posaune, die offenkundig opportun im Schattenton verweilt, geht das Gezetere los mit zweitem Saxophon. Selbst die Posaune plötzlich aufgeregt dazwischen, so sie überhaupt kann. Metaphorisch: Nachtgezänk um die Optionen unterm Licht der Hafenbar.
Poplar, die Pappel, knarzt und windet sich, die Posaune schiebt klassisch einen Choral. Buffleheads – die Köpfe der Büffel, der Bisons, möglicherweise als Trophäen in den Hütten der Jäger, der Ton ist tragend eher bekümmert verhalten sorgenvoll trauernd, nichts zu hören vom dumpfen Grunzton, vom Brüllen während der Brunst, die Bisons waren in Nordamerika fast ausgestorben.
Das Titelstück Living Things. Die lebenden Dinge. Also Dinge, die Leben verkörpern oder veräußern, in sich tragen, sich ihrer annehmen, heißt: ihre Geschichten erzählt hören von den Dingen hinter den Dingen, ihrem Wert, ihrer Bedeutung an sich. Vom Geladenen darin zur vorsichtigen Annäherung, laut leise, herantastend abwartend in den Zwischentönen, jede Assoziation verrät einen eigenen Ton, eine eigene Farbe, eine eigene Dichte.
Seaweed, das Seegras, der Seetang oder die Algen – in den Spitzen beobachtet oder in ihren im Wasser festsitzenden Wurzeln, unter Wasser über Wasser, unten oben, einzeln oder im Bund – Fläche Gewebe Spitze.
Es folgen die Seagulls, die Möwen – wie sie sich scheinbar Zeichen geben, sich scheinbar gegenseitig besänftigen, beruhigen oder anstiften zum nächsten Flug. Ja Flies, wohl eher ihre Flüge, als Flies die Fliegen, schwebend beinah, kreisend über dem, was sich okular auf dem Boden erfassen lässt, Spannungsaufbauten wie in sich vergrößerndem Mikroblick, da die Ränder verschwimmen und der Fokus sich immer weiter durchdekliniert und detalliert.
Soviel zu den Assoziationsräumen, die sich aus Nicola Millers Kompositionen auch ohne Vorwissen ableiten lassen. Wer etwas tiefer geht, hört ihr fundiertes Wissen um Ornette Coleman, hier: Lonely Woman oder die Experimentierfreude entlang der Strukturanalysen von Jürg Frey oder Radu Malfati entsprechend der Wandelweiser-Editionen.
Im Zusammenspiel mit Frank Gratkowski an der Bass Klarinette und am zweiten Saxophon, mit Doug Tielli an der Posaune, Nicholas D’Amato am Bass und Nick Fraser am Schlagzeug ist Nicola Miller mit diesem Album ein Kunstwerk gelungen, das sich nicht unbedingt ankündigen sollte, nach dem, was sie als Absolventin noch verspürte:
„Es gibt etwas zu sagen über die sehr frauenfeindliche und männerdominierte Kultur, die in der Jazzschule vorherrschte, und wie sich das zum Besseren wandelt“, verrät sie. „Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch stark genug, dass ich nicht in dieser Kultur bleiben wollte und darum kämpfte, einen anderen Platz in der Musik zu finden.“
Nachdem sie vor fast zwanzig Jahren ihre Grundausbildung in Jazz-Performance abgeschlossen hatte, sah sich Miller mit den Zweifeln und der Erschöpfung konfrontiert, die bei Absolventinnen solcher Studiengänge nur allzu häufig auftreten. So oft verlassen Musizierende – vor allem Frauen – die Institutionen mit dem Gefühl, um Erlaubnis bitten zu müssen, um Musik zu machen, anstatt das Rüstzeug für ihre Karriere mitzunehmen.
Während eines Großteils des Jahrzehnts nach ihrem anschließenden Studium der Musikpädagogik sah es so aus, als würde sie sich vom professionellen Musizieren entfernen.
Zum Glück aber führten mehrere Faktoren dazu, dass sie die Freude am Spielen wiederentdeckte, und halfen ihr dabei, ihre ganz individuelle künstlerische Haltung zu entwickeln, wir wir sie jetzt auf Living Things erleben.
Sie schrieb sich für ein Masterprogramm am Jazz Institut Berlin – Universität der Künste – ein, wo sie mit dem renommierten Improvisator, Komponisten und Bläser Frank Gratkowski in Kontakt kam, er wurde ihr Mentor und Freund, der ihr die perfekte Balance zwischen Kritik und Bestätigung bot und sie in ihren eigenen künstlerischen Instinkten bestärkte.
Als sie begann, die titelgebende Band für Living Things zusammenzustellen, lag es nahe, ihn in die Gruppe aufzunehmen, auch wenn der Rest der Band in Kanada ansässig ist. Miller betrachtet diese Gruppe als ihr „Traum-Ensemble“, da sie sich auf einige ihrer wertvollsten Kollegen stützt.
Wir können uns dem nur anschließen : Living Things ist ein phantasievolles und ausgereiftes Debüt, das zweifellos neugierig auf Millers nächstes Werk macht.
Her strange tender playing stretches toward the avant-garde while maintaining a foot in the lyrical and the mysterious.
We find clues in the liner notes: “the title Living Things refers to the biological significance of the cell as the fundamental unit of life, as well as its role as the smallest structural component in any composition”. The title “Barge” uses a field recording of a barge moored to a dock as a score. The title “Seagulls” is based on a transcription of slowed seagull cries, while the videographic score of ‚Seaweed‘ captures the effect of moving water on rooted seaweed.
Nicola Miller lives not far from the sea in the province of Nova Scotia, which essentially consists of the Nova Scotia Peninsula on the Atlantic Ocean and Cape Breton Island to the northeast. Numerous bays and fishing villages line the coast.
Hence the cries of seagulls, hence the barge moored at a dock.
The wind blows into it, you hear the creaking of the engines, which could be the beginning of the picture, as Frank Gratkowski’s bass clarinet plays over the alto saxophone. The metal rattles against the barrel, metaphorically: a harbor image of the anchor ropes rattling in the wind. Barge
The Night Crawlers follow – they have a lot on their minds, talk wildly, can’t agree, the alto saxophone finally tells them why they should trust their story more than that of the trombone, which obviously lingers opportunely in the shadows, the clamor begins with the second saxophone. Even the trombones suddenly intervene excitedly, if they can at all. Metaphorically: night-time bickering about the options under the light of the harbor bar.
Poplar creaks and twists, the trombone pushes a classical chorale. Buffleheads – the heads of the buffalo, the bison, possibly as trophies in the hunters‘ huts, the sound is carrying rather sorrowful rather restrained rather mournful, nothing to be heard of the dull grunting sound, of the roar during the rut, the bison were almost extinct in North America.
The title track Living Things. In other words, things that embody or sell life, that carry life within them, that take care of them, that is: hear their stories told about the things behind the things, their value, their meaning in themselves. From the invited therein to the cautious approach, loudly quiet, tentatively waiting in the nuances, each association reveals its own tone, its own color, its own density.
Seaweed, the sea grass, the kelp or the algae – observed in the tips or in their roots stuck in the water, under water above water, individually or in a bundle – surface fabric tip. Then come the seagulls – how they seem to signal to each other, soothe each other, calm each other down or encourage each other to take the next flight. Yes, Flies, or rather they fly as Flies the flies, almost hovering, circling above what can be captured ocularly on the ground, building up tension as if in an enlarging micro-vision, as the edges blur and the focus becomes more and more detailed.
So much for the associative spaces that can be derived from Nicola Miller’s compositions even without prior knowledge; those who go a little deeper will hear her profound knowledge of Ornette Coleman, here: Lonely Woman or the joy of experimentation along the structural analyses of Jürg Frey or Radu Malfati corresponding to the Wandelweiser editions.
In collaboration with Frank Gratkowski on bass clarinet and second saxophone from Buffeheads, Doug Tielli on trombone, Nicholas D’Amato on bass and Nick Fraser on drums, Nicola Miller has achieved a feat with this album that was not necessarily expected after what she felt as a graduate: “There’s something to be said about the very misogynistic and male-dominated culture that was prevalent in jazz school, and how that’s changing for the better,” she reveals. At that point, however, “it was strong enough that I didn’t want to stay in that culture and was fighting to find a different place in music.”
After completing her undergraduate education in jazz performance nearly twenty years ago, Miller faced the doubt and exhaustion that is all too common among graduates of such programs. So often, musicians – especially women – leave institutions feeling like they have to ask permission to make music, rather than taking with them the tools for their careers.
For much of the decade following her subsequent studies in music education, it looked as though she would walk away from making music professionally.
Fortunately, several factors led her to rediscover the joy of playing and helped her develop the individual artistic approach we now experience on Living Things.
She enrolled in a master’s program at the Jazz Institut Berlin – Universität der Künste – where she came into contact with renowned improviser, composer and horn player Frank Gratkowski, who became her mentor and friend, providing the perfect balance between critique and affirmation and encouraging her own artistic instincts.
When she began putting together the titular band for Living Things, it made sense to include him in the group, even though the rest of the band is based in Canada. Miller considers this group her “dream ensemble” as it draws on some of her most treasured colleagues.
We can only agree: Living Things is an imaginative and mature debut that will undoubtedly arouse curiosity about Miller’s next work.