Marcus Klossek Blink 6

Marcus Klossek Blink 6

29.02.24 B-Flat

Nikolaus Neuser – trumpet
Ignaz Dinné – tenor sax
Anke Lucks – trombone
Marcus Klossek – electric guitar
Carsten Hein – electric bass
Derek Scherzer – drums

marcusklossek

„Ich begann, für eine Sextett-Besetzung zu komponieren, ohne zu wissen, wer darin spielen würde“, so der Gitarrist. „Nachdem ich innerhalb von sechs Monaten acht Stücke komponiert hatte, brauchte ich Musiker, die gut Noten lesen können, die über Veränderungen improvisieren können und die frei improvisieren können.“
Album Release Date: 22.09.2023

Marcus Klossek – a master on the Fender Telecaster, which Bill Frisell and Jakob Bro also enjoy playin
Mastering by Bauer Studios Ludwigsburg

Vom Schreiben sind die unterschiedlichen Verfahrensweisen geläufig: Das Schreiben über die Assoziative, das Schreiben über Bilder, das Schreiben nach Vorgaben oder Vorlagen, das Schreiben als Handwerkszeug des Geschichtenerzählers entlang der unterschiedlichen Gattungen wie Roman, Erzählung oder Gedicht – und aber auch das Reden über das Schreiben, das Schreiben gedacht als kompositorischer Vorgang.

Heinrich von Kleist: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ verfügbar als Hörbuch, gelesen von Otto Sander.

„… Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne, sagte; denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen …“

Im gleichen Skript heißt es Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken und auch: Die Idee kommt beim Sprechen. Kleist umschreibt hier Versuche der Strukturierung einer nicht strukturierten Gedankenfülle, das kommt erst einmal ohne Stift und Papier aus, das arbeitet sich im Gespräch ab und entlädt sich im Gegenüber, selbst besten Rednern ist nicht selten anzumerken, dass sie, wenn sie den Mund öffnen, noch nicht wissen, was sie sagen wollen und einfach auf gut Glück zu reden anfangen.

Aus dem Nichts heraus entstehen Sätze [Töne]. In das Nichts hinein verschwinden Sätze [Töne]. Dazwischen türmt sich der dreiste Berg an Ideen und Kompositionen. Reden, disputieren und es aufschreiben, schon entsteht eine Geschichte. Bedenke auch: Kleist schreibt Verfertigung, nicht Verfestigung – es handelt sich also um einen Prozess der Strukturierung, die dem Sprechen folgt, der Kommunikation, dem Reden. Anders gesagt: das Reden strukturiert die Gedanken.

Den Musiker gefragt, antwortet er: ich schreibe nicht, ich spiele. Ich sammle. Ich erzähle Geschichten mit Tönen, am Anfang steht eine kleine Idee, daraus erwächst die ganze Geschichte, zusammengesetzt aus unterschiedlichen Perspektiven, ich wollte die Momente eingefangen haben und komponierte ein halbes Jahr an den unterschiedlichen Teilen von Geschichten und suchte mir schließlich Erzähler, in diesem Fall ein Saxophon, eine Trompete und eine Posaune.

Die den Rhythmus vorgebenden Schlagzeuger und Bassisten kannte ich aus vielen Jahren Zusammenspiel und aus mehr als fünf Alben, dieses hier war gleich auch nicht ohne Risiko – als sie aber die Kompositionen sahen und auch gelesen hatten, hieß es – ja, das machen wir. Auf gut Glück und ebenso war es ein Glück, dass es bei den ersten Proben gleich passte.

Das Glück des Erzählers. Die Geschichte geht auf. Die vielen Geschichten gehen raus. Eine ragt in die andere, die nächste deutet auf die übernächste, natürlich fließen da hinein auch eigene Erlebnisse, die Ergebnisse der eigenen Geschichte.

Die Titel zu den Stücken ergaben sich wie durch Zufall und aus dem heraus, was wir erprobten. Es beginnt in Tamouré (Five Eight) mit einem warm touchierenden Akkord, über dem die Fanfarenstöße das Gitarrenglissando kontrapunktieren – wichtig war, die Eckpfeiler so zu stellen, dass Raum bleibt für die Aussagen in den Solopassagen.

Geschichten erzählen sich gern auch von ihrem Ende her, nur darfst du das Ende der Erzählungen nicht gleich bekanntgeben. Wir haben in Blissed Out einen ruhigen Ansatz – den wollten wir nicht wieder und wieder glätten, der sollte für sich stehen.

Second Way zeigt eine Art Ausweg. Im flotten Up-Tempo zeichnen Trompete und Posaune eine Linie für das Saxophonsolo, das wechselt in einen Swing für die Gitarre, die etwas zurückhaltend zwar, aber akzentuiert ihren klaren und schnörkellosen Telecaster-Sound bekannt gibt mit all den Reminiszenzen an die früher so gern gehörten Aufnahmen von Pat Metheny und John Scofield.

Nehmen wir Every. Single. Day. – jeder Tag hat seine Regeln, seine trügerische Ruhe, seine forcierende Geschäftigkeit, seine Lichtwechsel, seine Stimmigkeit wie seine Fragen. Das einzige Stück übrigens, wo Delay-Effekte der Gitarre sich dem weichen Ton der Posaune annähern, weich und geschmeidig – das kann die Gitarre auch. Eine stimmungsvolle Passage zwischen orchestralem Posaunenton und gezupften Saiten. Hörst du die Pneu auf dem Asphalt? Wie das Ganze aufdreht und an die Bläsersektion übergeht. Hör dir das an!

Reason 27 – frag mich nicht – wir hätten auch Abgründe, Tiefgründe oder absichtslose Grundlosigkeit dazu sagen können, die Freiheit, auch anders zu spielen als im Korsett eines Manifests oder eines, wenn du so willst, festgelegten Skripts. Die akustischen Klänge, aber sicher doch – 80/81 nicht wahr – zähl mal nach, wie viele Erzählungen du hörst. Die 7 Minuten und 47 Sekunden kannst du gut und gerne dreimal, viermal, fünfmal hören, das ist in jeder Passage so voll davon, was man noch hätte erzählen können und das auch noch anders.

Selbst der Schlussakkord öffnet eine Tür: Zum Parcour durch Tough Town. Das ist nicht nur ein bisschen Berlin, diese Stadt mit den grundlos überteuerten Mieten, eine Stadt, die ihre Künstler vertreiben will, diese so einzigartige Stadt, die sich keine andere Stadt leisten kann, Tough Town ist sich offenbar zu schade, etwas Eigenes zu bleiben und wenn es erst aussieht wie Toronto oder London, geht das Erinnern wieder los, dieses oder jenes Berlin, an welches Berlin erinnerst du dich?

Dem nach: Let It Go – lass es einfach – könnte heißen, denk nicht darüber nach oder denk erst recht darüber nach. Wie jede Erzählung hat sie zwei Seiten, ein Anfang und ein Ende, dieses Mal drehen wir das Ende an den Anfang und schließen mit Think About Beginning – wenn du mich fragst: ich habe viel gelesen, vor allem über Punktlandungen, auf den Punkt kommen. Oder es zu halten mit dem, der alles schön zu deklinieren oder zu konstruieren versteht. Hier aber zählt mehr das Werk in sich, das der ersten Ansprache folgt, der ersten Skizze, der ersten Idee aus dem Mund desjenigen, der noch nicht weiß, was er sagen will – fängt erst einer an, so erzählen sich die Geschichten wie von selbst. Every single day und wie von Anfang an.

Bis hin zu diesem umfangreichen und vielseitigen Erzählwerk, von dem sich sagen lässt: das Risiko hat sich gelohnt. Die Einladung zur Fortsetzung einer neuen Serie steht. Ton für Ton. Idee für Idee.

Marcus Klossek legt beim Komponieren großen Wert auf Räume innerhalb gesetzter Strukturen, so ergeben sich ungeahnt viele Erzählungen – die, sie seien noch einmal einzeln erwähnt: Nikolaus Neuser an der Trompete, Ignaz Dinné am Saxophon, Anke Lucks an der Posaune, Marcus Klossek an der Gitarre, Carsten Hein am Bass und Derek Scherzer am Schlagzeug wundervoll auszugestalten und zu interpretieren verstehen. Wort für Wort. Satz für Satz. Insofern: ein sehr vielversprechender Plot, dargestellt in lebendigen Reden als wahrhaft interessantes Denken.

Tales From The Edge
by Marcus Klossek Electric Trio
Tales From The Edge
by Marcus Klossek Electric Trio
Macus Klossek Blink 6 in der Kunstfabrik Schlot

– english version

„I started to compose for a sextet line-up without knowing who was going to play in it,“ the guitarist said. “After I had composed eight pieces during six months, I needed musicians who could read notes well, who could improvise over changes and who could improvise freely.“

The different methods of writing are familiar: writing by association, writing about images, writing according to guidelines or templates, writing as a tool of the storyteller along the different genres such as novel, narrative or poem – and also talking about writing, writing conceived as a compositional process.

Heinrich von Kleist: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ available as an audio book, read by Otto Sander.

„And behold, when I talk about it with my sister, who sits behind me and works, I learn what I would not have brought out by perhaps hours of brooding. Not as if she told me, in the true sense of the word; for she knows neither the law book, nor has she studied Euler or Kästner. Nor as if she led me by clever questions to the point, on which it depends, if this last may often be the case. But because I do have some dark idea, which is in some connection with what I am looking for from afar, then, if I only brazenly make a start with it, the mind, as the speech progresses, in the necessity of now finding an end to the beginning, shapes that confused idea into complete clarity, in such a way that, to my astonishment, the knowledge is finished with the period. I mix in inarticulate sounds, drag out the connecting words, use an apposition where it would not be necessary, and make use of other, speech-extending, tricks to gain the proper time for the fabrication of my idea on the workshop of reason …“

In the same script it is called Such speaking is truly thinking aloud and also: The idea comes while speaking. Kleist describes here attempts of structuring a non-structured abundance of thoughts, that first of all gets along without pen and paper, that works itself off in the conversation and discharges itself in the counterpart, even best speakers are not seldom to be noticed that they, when they open their mouths, do not yet know what they want to say and simply start talking on good luck.

Sentences [sounds] arise out of nothing. Into the nothingness, sentences [sounds] disappear. In between, the brazen mountain of ideas and compositions piles up. Talking, disputing and writing it down, a story is already created. Consider also: Kleist writes Verfertigung, not Verfestigung – so it is a process of structuring that follows speaking, communication, talking. In other words: the speaking structures the thoughts.

Asked the musician, he answers: I don’t write, I play. I collect. I tell stories with sounds, in the beginning there is a small idea, from it grows the whole story, composed from different perspectives, I wanted to capture the moments and composed for half a year on the different parts of stories and finally looked for narrators, in this case a saxophone, a trumpet and a trombone.

I knew the drummers and bassists who set the rhythm from many years of playing together and from more than five albums, this one was not without risk – but when they saw and read the compositions, they said – yes, we’ll do it. On good luck, and it was also good luck that it fit right away at the first rehearsals.

The luck of the storyteller. The story goes on. The many stories go out. One story leads into the other, the next one points to the next one, and of course, one’s own experiences, the results of one’s own story, flow into it.

The titles to the pieces arose as if by chance and out of what we were trying out. It begins in Tamouré (Five Eight) with a warmly touching chord, over which the fanfare blasts counterpoint the guitar glissando – it was important to set the cornerstones in such a way that space remains for the statements in the solo passages.

Stories also like to tell themselves from their end, only you must not announce the end of the narratives right away. We have a quiet approach in Blissed Out – we didn’t want to smooth it over and over again, it should stand for itself.

Second Way shows a kind of way out. In a brisk up-tempo, trumpet and trombone draw a line for the sax solo, which changes into a swing for the guitar, which somewhat reservedly but accentuatedly announces its clear and no-frills Telecaster sound with all the reminiscences of the earlier so fondly heard recordings of Pat Metheny and John Scofield.

Take Every. Single. Day. – every day has its rules, its deceptive calm, its forcing busyness, its light changes, its coherence as well as its questions. The only piece, by the way, where delay effects of the guitar approach the soft tone of the trombone, soft and smooth – the guitar can do that too. An atmospheric passage between orchestral trombone tone and plucked strings. Can you hear the tires on the asphalt? How the whole thing turns up and passes to the horn section. Listen to this!

Reason 27 – don’t ask me – we could have said abysses, profundities or unintentional groundlessness to it, the freedom to play differently than in the corset of a manifesto or a fixed script, if you will. The acoustic sounds, but surely – 80/81 not true – count how many narrations you hear. You can easily hear the 7 minutes and 47 seconds three times, four times, five times, it’s so full of what else could have been told in every passage, and told differently.

Even the final chord opens a door: to the parcour through Tough Town. This is not just a bit of Berlin, this city with the gratuitously overpriced rents, a city that wants to evict its artists, this city so unique that no other city can afford it, Tough Town is apparently too shy to remain something of its own and once it looks like Toronto or London, the reminiscing starts again, this Berlin or that Berlin, which Berlin do you remember?

After that: Let It Go – just let it be – could mean don’t think about it or think about it even more. Like any narrative, it has two sides, a beginning and an end, this time we turn the end to the beginning and close with Think About Beginning – if you ask me, I’ve read a lot, especially about point landings, getting to the point. Or to keep it with the one who knows how to decline or construct everything nicely. But what counts here is the work in itself, which follows the first speech, the first sketch, the first idea from the mouth of the person who doesn’t yet know what he wants to say – once someone starts, the stories tell themselves. Every single day and as if from the beginning.

Up to this extensive and versatile narrative work, of which it can be said: the risk was worth it. The invitation to continue a new series stands. Sound for sound. Idea for idea.

When composing, Marcus Klossek attaches great importance to spaces within set structures, so that an unimagined number of narratives emerge – which, let us mention them again individually: Nikolaus Neuser on trumpet, Ignaz Dinné on saxophone, Anke Lucks on trombone, Marcus Klossek on guitar, Carsten Hein on bass and Derek Scherzer on drums know how to wonderfully shape and interpret them. Word for word. Phrase for phrase. In this respect: a very promising plot, presented in lively speeches as truly interesting thinking.